Auf dem Weg zur produktiven Stadt
Wir befinden uns mitten in einem Transformationsprozess. Nicht nur stellt uns der Klimawandel vor eine Herausforderung. Auch der Strukturwandel verändert die Ansprüche an die Stadt, die Räume, in denen wir leben, wohnen und arbeiten. Dabei zeigt sich insbesondere im Bereich der Wissensarbeit, dass Innovation stärker denn je auf Vielfalt, Vernetzung und Austausch basiert. Gleichzeitig wächst die Erkenntnis, dass Städte im Sinne einer »Produktiven Stadt« nicht allein auf Wissens und Dienstleistungsarbeit, sondern auch auf materielle Produktion als wirtschaftliche Aktivität angewiesen sind.
Trotz der in Fachkreisen regen Diskussionen zur gemischt genutzten Stadt leben wir heute noch immer in Städten, die weitgehend von monofunktionalen Strukturen geprägt sind. Nach beinahe einhundert Jahren der funktionsgetrennten Stadtentwicklung fehlen uns Beispiele und Vorbilder für gelungene Nutzungsmischungen. Auch die ökologischen, ökonomischen und sozialen Vorteile einer solchen Entwicklung werden noch zu wenig wahrgenommen. Die Produktive Stadt von morgen erfordert deshalb eine Auseinandersetzung mit komplexen Entwicklungsprozessen in Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt sowie eine räumliche Übersetzung der daraus gewonnenen Resultate in neue, multifunktionale Quartiere. Angesichts immer grünerer und immer schneller aufeinanderfolgender Herausforderungen gilt es, den strukturellen Wandel aktiv zu gestalten und gemeinsam mit Weitsicht neue Ansätze zu entwickeln. Das Ziel: die Transformation bestehender, isolierter Gebiete in miteinander vernetzte Quartiere, in denen Produktion selbstverständlicher Teil eines urbanen Stadtgefüges ist. Durch die Rückkehr der Produktion in die Stadt und die damit verbundene Durchmischung unserer Lebensbereiche werden im Stadtbild Kontraste entstehen, die wir werden aushalten müssen. Gleichzeitig können derartige „Collision Spaces“ Treiber für Innovation und neue Lebensqualität sein. So entstehen neue Synergien aus der Nachbarschaft von Wohnen und Gewerbe mit viel Potenzial für Wirtschaft und Gesellschaft.
Technologischer Fortschritt verändert Arbeit und Stadt
Technologischer Fortschritt hat schon immer die Gesellschaft und die Räume, in denen wir leben, arbeiten und wohnen, verändert. Während sich im 18. und 19. Jahrhundert mit der Industrialisierung zunehmend eine radikale Urbanisierung vollzog, in der einzelne Produktionsschritte in regionalen Zentren vereinigt wurden (z. B. im Ruhrgebiet), ging mit der Digitalisierung zum Ende des 20. Jahrhunderts die Globalisierung einher, in der die Produktion wiederum ortsunabhängig wurde. Man verlagerte sie entweder an den Stadtrand oder ans andere Ende der globalisierten Welt.
Heute, im 21. Jahrhundert, gibt es neue, sich rasant entwickelnde Technologien wie die Künstliche Intelligenz. Sie verändern erneut die Struktur unserer Märkte und sorgen dafür, dass Wissensarbeit immer größere Bedeutung gewinnt. Insbesondere in der Hochtechnologie werden Produktion, Forschung und Entwicklung räumlich enger miteinander verknüpft. Und weil Wissen und damit auch Produktionswissen stark an Menschen und Orte gebunden ist, entstehen ganz neue Anforderungen an die Arbeitsorte. Unsere Städte sind jedoch noch immer geprägt vom Leitbild der funktionsgetrennten Stadt, die auf die Charta von Athen 1933 zurückgeht. Zugunsten der Effizienz und als Reaktion auf die gesundheitlichen Missstände durch die emissionsreiche Produktion in den Städten sah die Charta eine räumliche Trennung von Arbeiten, Leben, Wohnen, Handel und Unterhaltung vor. War das vergangene Jahrhundert also geprägt von einer systematischen räumlichen Trennung sowie dem besonders in der zweiten Jahrhunderthälfte aufkommenden Drang nach Wachstum und Massenproduktion, entsteht heute ein neues Bewusstsein für die Endlichkeit unserer Ressourcen und dafür, dass unsere Gesellschaft und ihr Innovationspotenzial nicht von der Trennung leben, sondern in großem Maße von Vernetzung und Austausch.
Ein neuer Blick auf Arbeit und Industrie
Durch den Strukturwandel verändern sich Produkte, Prozesse und Räume unserer Arbeit. So macht sich die Transformation im Bereich der Arbeitswelten zum einen durch eine Vermischung von Leben und Arbeiten bemerkbar. Flexible Arbeitsplätze und -modelle sind längs in vielen Branchen gängig, der regelmäßige Switch von Remote- zu Präsenzarbeit ist an der Tagesordnung. Zum anderen findet eine Neuinterpretation von Arbeit statt: Die Wissensarbeit gewinnt zunehmend an Bedeutung, Blue-Collar- und White-Collar-Arbeit erhalten einen ähnlichen Stellenwert. Innovation entsteht mehr denn je durch eine enge Verknüpfung von Produktion und Entwicklung. Die Gründer des Schweizer Architekturbüros Hosoya Schaefer haben sich in ihrer Monografie „Industrie Stadt. Urbane Industrie im digitalen Zeitalter.“ (2021) mit der Frage auseinandergesetzt, wie eine solche Vernetzung aussehen könnte. Ausgehend von der Etymologie des Begriff`s der Industrie, der gemeinhin als „Produktionsmittel“ einschliesslich ihrer potenziellen Abstraktion und Extraktion als Kapital.3 verstanden werde, plädieren sie für ein Verständnis des Wortes im Sinne des englischen Adjektivs industrious (fleißig, betriebsam). Dies liege „näher an seiner lateinischen Wurzel und beton(e) das Know-how und den Arbeitseifer, die den Menschen und Orten immanent“⁴ sind. Auf unseren Kontext bezogen bedeutet das, dass wir Industrie nicht ausschließlich als Ort betrachten sollten, an dem Produktionsmittel im Sinne von Kapital entstehen. Vielmehr besteht das Kapital – über das einzelne Produkt hinaus – gleichermaßen aus dem Fleiß und dem im Produkt verankerten Wissen. In diesem ursprünglichen Sinn des Begriffs sind Industrie und Produktion Teil der Produktiven Stadt, in der gelebt, gearbeitet und gewohnt wird.
In ihrer „Agenda für eine industrious City“ schreiben Hiromi Hosoya und Markus Schaefer: „Die Industrie, die in die Stadt zurückkehrt, unterscheidet sich deutlich von der Industrie des 20. Jahrhunderts, die die Stadt verlassen hat. Während die Industrie früher mit Giessereien und Pressen, Fliessbändern und Öfen assoziiert wurde, umfasst sie heute auch Halbleiter- und Nanotechnologie, Materialwissenschaft und Chemie, Software, Kunst und Design (…). Die räumlichen Anforderungen liegen näher am menschlichen Massstab. Nicht nur die Stadt wird wieder industrieller, sondern auch die Industrie städtischer“.⁵ Die stärkere Symbiose aus Produktion und Entwicklung sowie das gesellschaftliche Bedürfnis nach Austausch und Vernetzung erfordern neue räumliche Strukturen, die diese Veränderungen spiegeln. Gleichzeitig ermöglichen neue Technologien eine weitaus emissionsärmere Produktion, die ein räumliches Zusammenrücken von Stadt und Produktion erst möglich macht und die Chance bietet, fragmentierte, von der funktionsgetrennten Stadt geprägte monofunktionale Gebiete wieder miteinander zu vernetzen und zu stärken.
Das Quartier als Netzwerk
In den vergangenen Jahrzenten hat man bei der Entwicklung von Industrie- und Gewerbegebieten in erster Linie auf effiziente Erschließungsstrukturen und auf möglichst flexibel teilbare Parzellenstrukturenm geachtet. Für jedes Unternehmen, für jede neue Anforderung und für jedes neue Produkt wurden die entsprechenden Flächen zur Verfügung gestellt. Übergeordnete Zusammenhänge wurden dabei nur selten berücksichtigt.
Dieser „ad-hoc-Städtebau“ führte zu festgefahrenen, „verwachsenen“ Strukturen, die den heutigen Anforderungen in Bezug auf Flexibilität und Unternehmenskultur nicht mehr gewachsen sind. Essentielle Aspekte wie Identität und Orientierung, Orte für Austausch und Kommunikation, Räume für Synergien und Zusammenarbeit sowie Angebote zur Versorgung oder Kinderbetreuung wurden meist nicht bedacht. All das sind jedoch Dinge, die ein Quartier ausmachen. Denn während Gebiete sich durch eine pragmatische Aneinanderreihung von Funktionen auszeichnen, besteht ein Quartier aus einem Netz an unterschiedlichen Begegnungsräumen. Hier kommen nicht nur vielfältige Nutzungen zusammen. Hier kommen Menschen zusammen – in sämtlichen Kontexten ihres Lebens. Wirtschaftlicher Erfolg und Innovationsfähigkeit entstehen also in einer zunehmend engeren Verknüpfung von Produktion und Wissen, wobei das Wissen von weichen Standortfaktoren wie Kultur und Lebensqualität bestimmt wird. Im Umkehrschluss heißt das, dass die inhaltliche Verknüpfung von Produktion und Wissen mit einem räumlichen Zusammenrücken einhergeht. Isolierte, monofunktionale Gebiete werden in multifunktionale, hochattraktive Wissensquartiere weiterentwickelt, bei denen Forschung, Entwicklung und Produktion integral mit den umgebenden, städtischen Nutzungen vernetzt sind.
Denkwandel für die zukunftsfähige Stadt
Für die Vision eines Stadtquartiers mit integrierter industrieller Nutzung ist ein grundlegender Denkwandel nötig, und das nicht nur aufseiten der Verantwortlichen im Unternehmen, sondern auch auf der planerischen wie kommunalpolitischen Seite. Getrennte Zuständigkeiten und konventionelle Konzepte müssen dabei einem „arbeitsteiligen“ Verständnis von Stadt und Werk weichen. Das Ziel sollte sein, ein zukunftsfähiges Stück Stadt zu schaffen, das auf engem Raum Produktion, Forschung und Entwicklung, Gewerbe, Wohnen, Bildung, Freizeit und Landschaft vereint und zu einem natürlichen Miteinander im Alltag verwebt. Wie bei einem neuronalen Netzwerk müssen die vielfältigen Anforderungen geordnet und in einen zusammenhängenden Prozess gestellt werden. Entscheidend ist dabei, diesen Prozess mit einer zukunftsfähigen Zieldefinition zu beginnen. Gleichzeitig muss es aber möglich sein, zu einem späteren Zeitpunkt räumlich auf veränderte Bedürfnisse eingehen zu können. Denn: Wenn sich Arbeit ändert, ändert sich auch die Stadt …
Fünf Thesen zur Weiterentwicklung von Industrie und Gewerbegebieten
Die folgenden Thesen können als Bausteine für die Weiterentwicklung bestehender Industrie- und Gewerbegebiete dienen.
Der Essay ist Teil der umfassenden Publikation„Traumfabriken“, die nun bei Penguin Random House erschienen ist.